Thorsten Konigorski

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Musizierende Nachbarn

Der Spiegel veröffentlichte am 1. Mai einen Verriss mit dem Titel „Fenster zu, verdammt!”

War ich beim Lesen zunächst köstlich amüsiert durch die Sprache (Von Weitem hielt ich sein Getröte zunächst für eine der Posaunen aus der Johannesoffenbarung. Ich wollte mich schon entnervt aufmachen und wütend durch meinen Kiez thomasbernharden.) und den Inhalt (Haben Sie schonmal eine*n Geigenschüler*in bei den ersten Spielversuchen gehört?) gleichermaßen, läßt er mich nun, einen Tag später, zwiegespalten zurück.

Als Musiker bin ich verhältnismäßig empfindlich mit dem, was an mein Ohr dringt. Da reicht es bisweilen schon, wenn im Nachbarshaus das Besteck wieder Stück für Stück in die Schublade gepackt wird. Die Frage aber ist doch: wieviel Halbfertiges, wieviel „Zwischenstand“ wird von der Gesellschaft ge– und auch ertragen? Das Internet wimmelt von Kalendersprüchen der Marke „Der Weg ist das Ziel“, und doch drängt sich mir gerade für den künstlerischen Bereich als Mehrheitsmeinung die Haltung auf: Wer es (noch) nicht kann, sollte es besser sein lassen.

Nichts ist leichter zu diffamieren als musikalisch-künstlerische Zwischenergebnisse — der Beispiele sind Legion: Kommentare zu künstlerisch natürlich unbefriedigenden Musikschul-Vorspielen, die Schlußszene von Loriots Pappa ante portas oder solch unsägliche Veranstaltungen wie Deutschland sucht den Superstar, wo es um künstlerische Qualität wohl als letztes geht. Stattdessen lobt man schöne Endergebnisse, frei nach dem Motto: siehst Du, Dein Sohn kann fantastisch Klavier spielen, dann hätte er sich das viele Üben doch ersparen können.

Das Sich-selbst-weiterbringen gehört wohl zu den vornehmsten Früchten künstlerischer Tätigkeiten. Im Idealfall begleitet es einen Musiker sein Leben lang. Von Robert Schumann ist der Satz überliefert Es ist des Lernens kein Ende. Insofern ist jedes, auch das überzeugendste musikalische Ergebnis ein Zwischenergebnis. Und wer mal ein anspruchsvolles Chorwerk mit einem Laienchor vorbereitet hat, kennt die kritischen Stellen. Dort, wo gleichsam Untiefen lauern oder Stromschnellen, genau dort haben auch die Profis ihre Schwierigkeiten, selbst wenn sie natürlich ungleich besser als Laien damit umgehen können.

Selbstverständlich braucht es zum künstlerischen Studium einen Schutzraum, einen Bereich, in dem man sich ohne vorschnelles Urteil ausschließlich, aber gnadenlos der eigenen Kritik stellen kann. Und später, darüber hinaus, ein Gegenüber, das, sich der potentiell zerstörerischen Kraft seines Feedbacks bewusst seiend, offen und wohlwollend Kritik am Zwischenergebnis übt. Das erfordert freilich ein pädagogisches Geschick, das nicht von genervten Zwangszuhörern erwartbar ist. Zuhörer, die nolens volens - etwa weil sie ins Homeoffice verbannt wurden - durch Übeversuche penetrant gestört werden. Ich weiß darum, plädiere aber im Zweifel für wertschätzende Geduld. Diejenigen jedenfalls, die ernsthaft üben, haben in meinen Augen ungleich mehr Respekt verdient als jene, die sich in coronabedingter Enthemmung und Hybris zur vermeintlichen Ergötzung der Umwelt auf den Balkon stellen oder deren Musikausübung sich auf das Verwalten des Spotify-Abos beschränkt. Freilich: das Fenster sollten sie dennoch schließen.

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